BIO

Stephan Weitzel

Im Anfang war das Wort, sagt ein einflussreiches Buch. Und du weißt, sie ist nicht der beste Verweis auf dich, diese Quelle, denn es ist nicht dein Buch; doch dieses Diktum, es gilt für dich, für deinen Bezug zur Welt: Immer steht oder schwebt dort ein Wort, wo Sinn sich bildet, wo die Dinge sich fügen und greifbar werden.

Wortlosigkeit ist Stummheit ist Tod.

So sprichst du und hörst du und schreibst du weiter.

Sprache ist alles. Alles andere ist das andere.

Vor Jahren, als der Zeichenstift und die Nähnadel die Klaviatur waren, aus der du die Welten erwachsen ließest, entstand jenes Selbstbildnis in Worten und es waren, wie konnte es anders sein, Worte einer anderen Sprache :

"At the outset, there were the vivid colours of the seventies; they struck your eyes early. Then the paper came, and pencils of all hues. You drew, like everyone. But you continued. You drew houses, houses of any kind. You added one to another, building villages and towns, cities almost. Always the best, the nicest and the biggest, the most luxurious but isolated home was yours. A paper home, made of pencil lines and hope. You invited others to choose their house, sometimes you gave names to streets and places, to squares and lakeside promenades. You administered with line and eraser, but words, stronger, hit you. You learnt other idioms, filters against harm and calumny. You left everything you knew behind, transmuted your mind to resistance. Speech left you, abandoned to silence. There they were again, the images you saw so early. You took up the brushes, luciously convinced of doing right. Reality held out against you, matter won the battle over will. To give body to your work, make things palpable, you embraced the third dimension, sheltering that void. Translating what you saw into the visible, installing this visible in space, this, and nothing else, was your new race. Again, you went away, travelling continents. What you found was what you knew already. Yet it became consistent. You looked upon others as you looked upon yourself. Myths of men and nations, of one and the crowd. But always elsewhere, though the home is the world. You now need the single form, relying on its own strength, all in textiles, interwoven thread, line made matter. You move back to your roots, and drawing continues. Drawing, this outspoken reverse of words unspoken. Your drawing maps the world of what is possible."

Vom Verstummen zur Linie, von der Zeichnung zur Farbe, von der Abstraktion des Zweidimensionalen zur Körperlichkeit der dritten Dimension, vom Volumen zum Wort, endlich. So sah sie aus, deine Sprachlosigkeit. Alles ist Übersetzung, immer. Du lebtest in der Ferne, so nah. Paris. Du nanntest es Exil, es war Atmen nach dem Leben in der Enge. Deutsche Provinz, so fern. Schon immer. Du hast dich entwurzelt, gewaltsam. Hast verweigert, was dir gegeben. Ein Reset-Button mit französischem Timbre. Dein Ohr ist gut, dein Drang, alles Deutsche zu tilgen – DENKEN-FÜHLEN-PRONONCIEREN-AUASAGEN – so stark, dass du dir keinen Fehltritt vergibst. Sprechen ohne Maske bedeutet stolpern. Wer stolpert, stirbt. 

In der Fremde darf niemand hören, wer du wirklich bist. So wird Französisch deine zweite erste Sprache. Du lebst und liebst französisch, bis zum nächsten Bruch. England. Der Maske setzt du eine Maske auf. Du lernst eine neue Sprache, von innen. Doch nie warst du Sprache so fern. Du greifst zu Zeichenstift und Pinsel. Doch Bilder sind vorsprachlich, glaubst du noch. I, me and myself. Da fehlt die Alterität. Dann treibt dich das Heimweh nach Hause: wieder Paris. Noch einmal. Dann das Mittelmeer, wo du den Pyrenäen näher bist, und Sanary-sur-mer. Das Exil der anderen. Plusquamperfekt, Vorvergangenheit. Der Phantomschmerz beißt und der Ekel am Versteckspiel bringt dich zum Kotzen. Es katapultiert dich, nach einem halben Erwachsenenleben, zurück in ein neues Land, das du nicht kennst, aber dessen Sprache du sprichst. Es dauert, Jahr um Jahr, bis deine Zunge den Akzent verliert, den die Deutschen deinem Deutsch testieren. Du sagst Du, noch eine ganze Weile. Doch dann bist du wieder da und sprichst: Ich.


Foto: www.tim-deussen.de
Foto: www.tim-deussen.de

1970 im Süden des Westens geboren, übersiedelt mit 19 Jahren nach Paris; Theaterwissenschaften und Deutsch-Französische Studien an der Universität Paris III, Sorbonne-Nouvelle; arbeitet als Sprachlehrer und Übersetzer; zieht nach Großbritannien, studiert Kunst in London (Central School of Speech & Drama) und Norwich (Norwich School of Art & Design); etabliert sein Atelier in Paris und belegt weitere Zeichenkurse an der École des Beaux-Arts. In den folgenden Jahren arbeitet er als Radioproduzent, Sprecher und Komparse im Kino; unterrichtet Deutsch an der École du Louvre und am Lycée Louis-le-Grand. Zeichnet verantwortlich für die Regieassistenz und künstlerische Leitung des kubanischen Spielfilms Siete días Siete noches von Joel Cano. Erhält verschiedene Stipendien und unternimmt Arbeitsreisen nach Kuba, Irland, Österreich, Deutschland, Indien, Spanien, Kanada und in die USA; stellt in Einzel- und Gruppenausstellungen in diesen Ländern aus. Interventionen im öffentlichen Raum; verfasst Prosa, Lyrik und essayistische Texte zur Kunst; öffentliche Lesungen und Lese-Performances seit 2006, u.a. in Stuttgart, Hannover, Weimar, Berlin, Leipzig, im Goethe-Institut Montréal und Helsinki, und im MAC A Coruña.

 


 

Lässt sich 2005 in Marseille nieder; konzipiert und realisiert das Bühnenbild für Résidence Secondaire der Kompanie Christophe Haleb. Nimmt mit der Frankfurter Galerie Anita Beckers an den Kunstmessen PULSE in New York und Artchicago teil, mit der Galerie Berthold Naumann an ART AMSTERDAM und mit der Galerie Nicolas Silin am Salon du Dessin Contemporain in Paris.

Kehrt Anfang 2007, nach 17 Jahren, nach Deutschland zurück und etabliert sein Atelier einige Jahre in Berlin, danach lebt und arbeitet er in Leipzig. 2016 Gründung des Raumes für Kunst & Literatur, charlotte13, in Leipzig, wo er zur Buchmesse u.a. den Filmemacher Bernhard Sinkel und die Autorin Marjana Gaponenko empfängt.

 

2016/2017 erhält er das MERCK-Literaturstipendium, Textwerkstatt Darmstadt, mit Kurt Drawert.

Gasthörer am Deutschen Literaturinstitut Leipzig bei Kerstin Preiwuß, Zur Theorie und Praxis des Literarischen Schreibens

 

2019, Stories of Place, Writing and the Natural World , The University of Iowa.

 

2020, Denkzeit-Stipendium, Kulturstiftung des Freistaates Sachsen

 

2021, Werkaufenthalt Literatur, Alter Schlachthof, Sigmaringen

 

2022, TRAMES, Cité internationale des arts, Paris (frankophones Programm)

             Stadtschreiber Helsinki (deutsch-französisch), Goethe-Institut, Institut français, Nuoren Voiman Liitto

 

Seit Sommer 2023 lebt er im Elsass – um täglich seine beiden Sprachen nicht nur in sich, sondern auch um sich zu haben.